Kurz nach der 68er Studentenbewegung entstand die Lehrlingsbewegung.
Unsere Forderungen damals waren eher bescheiden: garantierter
Mindestlohn, Schluß mit den Hilfsarbeiten, kein Zwang zu
Überstunden, Einhaltung der bestehenden Gesetze. Die Unternehmer
waren sich nicht gewohnt, daß Lehrlinge aufmucken. Sie reagierten
mit Drohungen und Entlassungen. Daraufhin organisierten wir Demos,
Boykottaktionen, Happenings. Die Leute waren großteils auf
unserer Seite - die Unternehmer mußten zurückkrebsen.
Überall entstanden Gruppen. Jedes Jahr gab es ein großes
Sommertreffen, mal in Österreich, mal in der Schweiz, mal in
Belgien. Hier wurde die neue Gesellschaft ausprobiert, das
Zusammenleben, politische Aktionen diskutiert, Erfahrungen
ausgetauscht, neue Kampagnen beschlossen, internationale
Solidarität geplant oder ganz einfach den Erzählungen der
streikenden englischen Docker und belgischen Minenarbeiter gelauscht.
Die Bewegung war von Anfang an international.
Die Sommerlager waren jedesmal zu kurz. Wir wollten uns das ganze Jahr treffen. Und nicht nur an einem Ort. Deshalb verlangten wir von den verschiedenen europäischen Regierungen, den Jugendlichen einige Quadratkilometer Land in wenig entwickelten, sozial und wirtschaftlich bedrohten Regionen zur Verfügung zu stellen. Wir wollten in diesen Regionen europäische Pioniersiedlungen aufbauen. Da eine Reaktion seitens der Regierungen (erwartungsgemäß) ausblieb, fingen wir auf eigene Faust an, drei verfallene Höfe in der Haute-Provence und die zugehörigen 300 Hektar Land wieder aufzubauen und gemeinsam als Kooperative zu bewirtschaften. Wir gaben diesem ersten Projekt den Namen "Longo maï", ein provençalisches Grußwort, das bedeutet: "Es möge lange dauern".
Die Reaktion der Regierung ließ diesmal nicht lange auf sich warten: Alle Ausländer wurden noch im selben Jahr ausgewiesen, wegen "Terrorismusverdacht" und "Gefährdung der französischen Atomstreitmacht". Dank dieser unverhofften Propaganda erfuhr man auch in Frankreich von unserer Siedlung. Der Ansturm deren, die nun mitmachen wollten, war so groß, daß wir in aller Eile weitere Projekte begannen.
In der Zwischenzeit sind fünf landwirtschaftliche und handwerkliche Kooperativen in Frankreich, eine in Österreich, eine in der Schweiz und eine in Deutschland entstanden. In den ukrainischen Karpaten arbeiten wir an einem Dorfprojekt auf der Grundlage von Verarbeitung und Handwerk, und auf der Flüchtlingskooperative von Longo mai, "Finca Sonador" in Costa Rica, fanden zuerst die vor dem Diktator Somoza flüchtenden nikaraguanischen Jugendlichen, dann salvadorianische Familien und einheimische landlose Bauern eine Existenzgrundlage. In Frankreich haben wir eine Kette von Kooperativen geschaffen, die sich gegenseitig aufgrund ihrer Lage entlang des Wasserlaufs der Durance - von ihrer Quelle in den Alpen quer durch die Provence bis hinunter in die Ausläufer der Camargue - ergänzen.
Longo maï wollte sich nie auf ein paar Hektaren Utopie
zurückziehen, sondern war immer offen für solidarische,
grenzüberschreitende Aktionen. Am 12. Dezember 1989
veröffentlichten wir das "Manifest für ein Europäisches
Bürgerforum" mit dem Ziel, direkte Kontakte zwischen Bürgern
ganz Europas zu fördern, die zu Trägern einer neuen Form der
Solidarität werden könnten.
Im ehemaligen Jugoslawien gründeten wir zusammen mit
unabhängigem Journalisten eine alternative Presseagentur, ein -
leider - einmaliges Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Leuten aus
sämtlichen Republiken über die Gräben der
nationalistischen Grenzen hinweg. Eine weitere Initiative war das
Anschieben der Solidaritätskampagne zwischen Schweizer Gemeinden
und Gemeinden in Ex-Jugoslawien, "Gemeinden Gemeinsam" und, nicht
zuletzt, die "Europäische Kampagne für Schutz und Aufnahme
der Deserteure" aus dem Bürgerkrieg.
Nach dem Fall der Mauer griff eine Gruppe von Leuten aus
Ostdeutschland die Ideen von Longo maï auf und beschloß,
zusammen mit uns ein neues Projekt zu realisieren. Da uns die Treuhand
im Oderbruch weder Land verpachten noch verkaufen wollte, suchten wir
nach einem passenden Objekt und fanden den Hof
Ulenkrug in Mecklenburg. Im November 1995 wurde begonnen, eine
vielseitige, naturgerechte Landwirtschaft mit eigener
Weiterverarbeitung und Vermarktung aufzubauen. Auch vom Ulenkrug
spricht sich langsam herum, daß er ein Treffpunkt ist für
die unterschiedlichsten Menschen, um in Ruhe miteinander zu reden und
Pläne für eine lebbare Zukunft zu schmieden.
Heute leben ständig auf diesem Hof 14 Erwachsene und sieben
Kinder. Die 42 ha Land nutzen wir als Weide für eine Pinzgauer
Mutterkuhherde und eine Herde Pommersches Landschaf sowie sieben Hektar
für Futter- und Kartoffelanbau. Auf einem halben Hektar wachsen
Gemüse und Blumen. Vor einem Monat haben wir fünf Hektar Wald
angepflanzt. Das alte Bauernhaus, ursprünglich geplant für
eine Familie mit sechs bis acht Personen, nutzen wir als Wohnort
für unsere Kinder und Aufenthaltsort für uns alle. Die
meisten Erwachsenen leben seit mehreren Jahren in Bauwagen. Um die
Situation für uns und unsere zahlreichen Gäste zu verbessern,
haben wir begonnen, die Tenne eines nicht mehr als Stall genutzten
Gebäudes auszubauen. Im Sommer 2000 werden wir mit Wandergesellen
die Baustelle für ein neues Gebäude beginnen. Dafür wird
jetzt über den Jahreswechsel Holz geschlagen, mit rund 30
Jugendlichen, die aus der BRD, Holland, der Schweiz und Frankreich
hergekommen sind.
Im Sommer 1999 haben wir hier auf dem Hof den 9. Kongreß des
Europäischen Bürgerforums durchgeführt, zu dem rund 400
Menschen aus 18 Ländern gekommen waren, viele aus
unterschiedlichen osteuropäischen Ländern. An Runden Tischen
haben wir über das Ende der Arbeit, Gastfreundschaft, den Krieg in
Jugoslawien und seine Auswirkungen, ländliche Entwicklung und
Kultur geredet. Diese Diskussionen werden weitergeführt, in der
Zeitschrift des Europäischen Bürgerforums "Archipel", in den
verschiedenen Kooperativen sowie in den Veranstaltungen "Kultur im
Kuhstall" hier auf dem Hof.
Europäische Kooperative Longo maï, Hof Ulenkrug, D-17159
Stubbendorf
Tel. 039959-23881, Fax: 039959-20399, e-mail: ulenkrug@t-online.de